Nach ihrem Mutausbruch vor knapp einem Monat ist sehr viel geschehen. Die letzten Jahre plätscherte ihre Ehe nur noch vor sich hin. Im Sommer wird Mona bereits ihren fünfundfünfzigsten Geburts-tag feiern. Bei dem Gedanken fühlt sie neuerdings einen Kloß im Hals und einen leichten Druck in der Brust. Es drückt und zieht in ihr. Sie spürt sich nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Nein, schon sehr, sehr lange nicht mehr. Die Zeit scheint schneller und schneller. Jahre, die vertan sind. Das Wartezimmer ist voll, es wird eine Weile dauern, bis sie drankommt. Mona wartet auf ihre jährliche Routineunter-suchung beim Arzt. Routineuntersuchung, denkt sie, vielleicht sollte ich auch mal Routineuntersuchungen für langweilige Leben anbieten? Oder mein eigenes untersuchen? Gelangweilt greift sie nach einer liegen gebliebenen Frankfurter Tageszeitung. Erst blättert sie lustlos darin herum. Mona will die Zeitung schon wieder beiseitelegen, als ihr eine dick umrandete Anzeige auf der letzten Seite ins Auge fällt. Wie hypnotisiert starrt sie auf den Text. Sie liest die Anzeige dreimal, viermal, fünfmal. Ein Kribbeln, als hätte sie eine Ameisenarmee zu Besuch. Mona schaut sich im Wartezimmer um. Jeder ist mit eigenen Gedanken beschäftigt. Schnell rollt sie die Zeitung zusammen und steckt sie unauffällig in ihre Handtasche. Niemand hat es gesehen. Unruhig rutscht sie auf dem Stuhl herum, endlich wird Mona erlöst und darf ins Behandlungszimmer. Ihr Arzt hat sie während des Blutdruckmessens mehrmals merkwürdig angesehen und vorsichtig gefragt, ob es ihr wirklich gut geht. Sie steht wie unter Drogen. Sie meint nur: Alles gut, ich bin nur endlich aufgewacht. Zu lange war ich schockgefroren, nun werde ich meine Träume endlich verwirklichen. Er nickt ihr nur freundlich zu, was er von ihr denkt, will sie lieber gar nicht wissen. Ihr Blutdruck ist an diesem Tag ungewöhnlich hoch, sonst neigt sie eher zu niedrigem, was der Arzt ihr dann auch mitteilt. Aber es ist ihr auch egal, sie kennt den Grund ihres erhöhten Blutdrucks. Total aufgeregt und beschwingt fährt sie nach der Untersuchung auf dem schnellsten Weg nach Hause. Die Einkäufe müssen warten, der Kühlschrank bleibt leer. Kaum daheim setzt sie sich ins Wohnzimmer und liest sich die Anzeige laut vor. Dolce far niente Wer hat Lust auf eine einjährige Auszeit? Vermiete ab 1. März mehrere Zimmer in einer charmanten Villa umgeben von einem parkähnlichen Grundstück in Cannero, im Piemont am Lago Maggiore. Alle Zimmer wurden bereits aufwändig renoviert und sind mit antiken Möbeln ausgestattet. Die Villa hat einen direkten Seeanstoß mit kleinem Badestrand und einer Bootsboje. Die Promenade und alles für den täglichen Bedarf sind in wenigen Minuten zu Fuß erreichbar. Bei Interesse bitte eine Mail, mit Ihren Angaben (sehr gerne auch mit Bild) und warum Sie eine Auszeit nehmen möchten in Italien. Energiegeladen und entschlossen holt sie ihren Laptop und fängt an zu schreiben, ihre Finger fliegen über die Tastatur. Fasziniert von Ihrer Anzeige habe ich beschlossen, dass ich sehr gerne eines der Zimmer in Ihrer Villa für ein Jahr anmieten möchte. Ich habe in mich hineingespürt und bin - ehrlich gesagt - wie besessen davon dabei zu sein. Lange habe ich schon mit dem Gedanken gespielt, etwas Neues zu machen. Ich brauche dringend eine Veränderung in meinem Leben. Ich möchte meine Lebendigkeit wiedererlangen, denn mein bisheriges Leben interessiert mich nicht mehr. Ich bin eine fast fünfundfünfzigjährige, schlanke Frau, mit langen, braunen Haaren und einer noch ansehnlichen Erscheinung. Meistens bin ich fröhlich und humorvoll. Auf jeden Fall spontan, abenteuerlustig und neugierig aufs Leben. Manchmal bin ich zu hitzig und ungeduldig. Aber eben auch ehrlich. Ich liebe den Lago Maggiore und freue mich auf eine baldige Nachricht von Ihnen. In hoffnungsvoller Erwartung Mona Morgenstern. Sie sucht ein Foto heraus. Mona entscheidet sich für ein zwei Jahre al