Über das, was ich vorhatte, sprach ich mit niemandem. Nicht mal mit meinem besten Freund Leo, der mit wachsender Sorge betrachtete, wie sehr mich das Interesse am Osten in Beschlag nahm. Und schon gar nicht mit meinen Eltern. Denen sagte ich nur, dass ich wieder nach West-Berlin müsse, um für...
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Über das, was ich vorhatte, sprach ich mit niemandem. Nicht mal mit meinem besten Freund Leo, der mit wachsender Sorge betrachtete, wie sehr mich das Interesse am Osten in Beschlag nahm. Und schon gar nicht mit meinen Eltern. Denen sagte ich nur, dass ich wieder nach West-Berlin müsse, um für eine Arbeit an der Uni zu recherchieren. Dort, so log ich, gäbe es die besten Bibliotheken für meine Sache. Das klang plausibel und produzierte keine weiteren Nachfragen. Ich machte also nur eine Art Dienstreise.
Ich kannte die Übergangsstelle gut - auch wenn ich die Fahrt über die breite Saalebrücke, einst eines der Vorzeigeprojekte der Nazis, stets etwas unheimlich fand. Zudem hatte ich gerade an dieser Grenzstelle jenes höchst unangenehme Ereignis mit den DDR-Grenzern, das ich Frieder so eindringlich beschrieben hatte. Daran musste ich denken, als ich auf der A9 Richtung Osten fuhr und gerade die Ausfahrt Münchberg passierte. Wie lautete noch der erste Satz aus Franz Kafkas Roman Der Prozess? Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Das war es, dachte ich jetzt. Die Situation an der Grenze zur DDR war Kafka entlehnt. Sobald ich die Übergangsstelle erreichte, nein, eigentlich schon jetzt, fühlte ich mich schuldig. Die Schuld wird quasi von Beginn an als gegeben vorausgesetzt. Meine Überlegungen, warum ich Schuld haben könnte, liefen daher ins Leere. Sie war einfach schon da.
Die DDR funktionierte damit im Kern nicht anders als die katholische Kirche. Die Menschen waren zunächst alle Sünder. Durch Wohlverhalten konnten wir zwar die Folgen dieser Schuld erträglicher gestalten. Tilgen konnten wir unsere Schuld aber nie. Heute war es allerdings ein wenig anders. Diesmal hatte ich die Sünde bereits im Kopf, ich hatte sie schon geplant. Wenigstens wusste ich jetzt, warum ich mich schlecht fühlte. Das machte die Sache allerdings nur unwesentlich besser.
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